Verwahrheitungen

Dieter Koffler

Liebe Freunde der Bildenden Künste, herzlich willkommen in der Villa Bajadere zu dieser Vernissage von Michael Bottig, eine Ausstellung, die er unter den Titel „Verwahrheitungen“ gestellt hat.
Vorweg ein paar biografische Eckdaten zum Künstler Michael Bottig. Im Jänner 2025 hat er seinen 70er gefeiert. Studiert hat er bis 1980 an der Akademie der Bildenden Künste unter Prof. Rudolf Hausner. Das ist der, der vor allem mit seinen Selbstporträts unter dem Titel „Adam“ berühmt geworden ist. Beruflich hat sich Michael dann dem Lehrertum als Bildnerischer Erzieher gewidmet. Mit Herz und Seele ist er freilich sein Leben lang dem künstlerischen Schaffen treu geblieben, das auch in einer langen Serie von Ausstellungen seinen Niederschlag gefunden hat.
Nach der letzten Ausstellung 2024 in Wr. Neustadt unter dem Titel „Verwerfungen“ jetzt also das Thema „Verwahrheitungen“. „Verwahrheitung“, das ist zweifellos ein schönes Wort, ein Wort allerdings, das der deutsche Duden gar nicht kennt. Was nicht heißt, dass es das Wort nicht gibt. Und Michael ist auch nicht der einzige, der sich dieses Begriffes bedient. Da gibt es durchaus prominente andere Fallbeispiele, insbesondere wenn es um das Verhältnis von Kunst und Wahrheit geht.
So verweist der zeitgenössische Philosoph Lutz Geldsetzer in seinem Werk „Wissenschaftsphilosophie“ aus dem Jahr 2015 „auf eine Tendenz zur „Verkunstung der Geisteswissenschaften“ und zugleich der „Verwahrheitung der Künste“.
Er sieht hier die Konsequenz der Schellingschen Lebensphilosophie, dass nur durch Kunst die Wahrheit zu gewinnen sei und die Wissenschaften insgesamt erst dahin kommen müssten, wo die Kunst immer schon sei.
Ein anderer berühmter Philosoph, Martin Heidegger, ging in seinem Kunstverständnis noch einen Schritt weiter und hielt fest, dass Kunst nicht Ausdruck der Schönheit sei, sondern als das "Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit" und damit des Seins selbst anzusehen sei.
Rein sprachlich ist der Begriff Verwahrheitung jedenfalls durchaus nachvollziehbar. Etwas wird zur Wahrheit. Verwahrheitung steht für Michael unter dem Aspekt, dass in der Kunst eine Idee, eine nicht reale Vorstellung zu einem ganz und gar realen Kunstwerk (Bild) und damit verwahrheitet wird. Oder wie Michael es auf seiner Einladung so schön formuliert hat: „Verwahrheitungen dienen dazu, noch nicht Realisiertes vorstellbar zu machen.
Ein Zugang, der so manche legitime, ganz grundsätzliche Frage aufwirft: Kann etwas zu Wahrheit werden? Etwas, das zuvor noch nicht Wahrheit ist? Wie wird etwas zur Wahrheit? Und über allem: Was ist Wahrheit überhaupt?
Eine eindeutige und kurze Antwort auf diese große Frage gibt es schlichtweg nicht, auch wenn oder vielleicht auch weil sich Philosophen und Theologen aller Zeitalter und Kulturen an der Wahrheit abgearbeitet haben. Man denke da etwa an die Befragung von Jesus durch Pilatus im Evangelium nach Johannes. Auf die Frage, ob er ein König sei, sagt Jesus, er sei in die Welt gekommen, dass er für die Wahrheit Zeugnis ablege. Worauf Pilatus schlicht fragt: Was ist Wahrheit? Und Jesus, Sohn Gottes, gibt darauf keine Antwort.
Gehen wir einmal vom Begriff aus: Das deutsche Wort Wahrheit ist als Abstraktum zum Adjektiv „wahr“ gebildet, ein Wort, das sich aus dem indogermanischen Wurzelnomen „wēr“ entwickelt hat. Und „wär“ bedeutet „Vertrauen, Treue, Zustimmung“. Schon an dieser Stelle offenbart sich eine subjektive Dimension von Wahrheit, die sich nie ganz ausräumen lässt.
Selbst die Mathematik, die wie die Naturwissenschaften generell Wahrheit über Beweise definiert, kann keinen Anspruch auf eine immergültige Wahrheit stellen. Weil „immer“ auch die Zukunft beinhaltet, die Zukunft sich aber aus der Perspektive der Gegenwart der faktischen Beweisbarkeit entzieht.
Am zielführendsten bleibt damit wohl ein alltagstauglicher Zugang. Wahrheit als eine Übereinstimmung von Aussagen oder Urteilen mit einem Sachverhalt, einer Tatsache oder der Wirklichkeit im Sinne einer korrekten Wiedergabe. Oder der Weg über das Gegenteil von „Wahrheit“, einerseits die Lüge als absichtliche Äußerung der Unwahrheit, andererseits der Irrtum, ein fälschliches Fürwahrhalten.
Wenn wir uns die Frage stellen, wie – und ob - etwas zur Wahrheit wird, verwahrheitet wird, eröffnet sich eine zweite Ebene, nämlich eine politische Dimension, die für die Werke von Michael Bottig seit jeher relevant ist. Große sozialpolitische Themen der Menschheit von der Migration bis zur Ökologie ziehen sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes Schaffen.
Und gerade wir im Zeitalter der „unsozialen“ Medien, sind Zeugen, wie Unwahrheiten und handfeste Lügen aus politischen Absichten verwahrheitet werden.
Dazu ein kurzer Ausflug in die Dissertation des deutschen Politikwissenschaftlers Florian Spissinger über „Die Gefühlslage der AFD“ (Verlag Barbara Budrich 2024). Darin befasst er sich u.a. mit der von der AFD propagierten Erzählung vom „großen Austausch“ der Bevölkerung. Den dieser Erzählung zugrunde liegenden Wirkmechanismus bezeichnet Spissinger als affektive Verwahrheitung im Modus alltäglicher Vergegenwärtigung. Soll heißen: Menschen werden dazu angeregt, den Blick an ‚bedrohlichen‘ Körpern, ‚verdächtigen‘ Objekten und kleinen Veränderungen im eigenen Alltag auszurichten. Eben damit werden Untergangsszenarien in selbst-evidente Alltagserfahrung übersetzt.
Womit wir hier mit einer Form von Verwahrheitung konfrontiert sind, die jener, aus der Michaels Kunstwerke erwachsen, diametral gegenüber steht.br> Ich möchte das Thema jetzt auf die ganz reale Ebene eines der hier ausgestellten Werke verlagern. Diese hier heißt „Der unerwartete Blick“ und ist so ziemlich neu, geschaffen im Jahr 2025.
Was sehen wir?

Zunächst, das ganze Werk ist in Schwarz-Weiß gehalten. Am Boden Laub, gezeichnet, Bleistift oder Tusche, aufgeklebt auf kleine Stelzen, sodass ein 3-D-Effekt entsteht. Rechts dominant die Fassade einer Ruine, besser gesagt eine Art Scherenschnitt davon, ebenfalls erhaben in 3-D. In zwei Fenstern sind moderne Wohngebäude zu erkennen, zwei weitere etwas oberhalb zur Hälfte unter dem Scherenschnitt herausragend. Links von der Ruine ein ganz schmales hohes Podest, das aus dem Blattwerk über die Ruinenfassade hinaussteigt und einen ganz schmalen Schatten auf den weißen Hintergrund wirft. Darauf eine winzige Kunststofffigur, weiß, bei genauerem Blick als männlich identifizierbar. Daneben, in einer Art Korb – ein bisschen wie eine Fahrstuhlkabine ohne Fahrstuhl – eine zweite weiße Figur, weiblich. Betrachten wir das kleine Männchen genauer, so sieht man, dass sich sein Blick nicht auf das architektonische Szenario unter ihm richtet, sondern auf die Frau daneben.
Stellen wir uns einmal den Schaffensprozess dieses Werks vor, z. B. so: Der Künstler macht einen Ausflug und trifft dabei auf eine Ruine, deren Fassade ihn so beeindruckt, dass er beschließt das Motiv zu malen. Schon während der Arbeit gefällt ihm die Vorstellung, dem alten Bauwerk eine moderne Architektur gegenüberzustellen, und er hat die Idee, dass man quasi durch das Fenster des Alten einen Blick auf das Neue erhascht. Es soll sich da aber nicht zur Gänze verbergen, also schneidet der Künstler einerseits die alte Fassade zurecht, andererseits lugen die modernen Gebäude wie ein neues Gewächs auch noch an anderen Stellen hervor.
Mit der Gegenüberstellung von alt und neu ist der Faktor Zeit stark im Bild präsent. Der wird von gefallenen Blättern verstärkt, die in einer realistischen Form als eine Art gefallenes Laub am unteren Bildrand sehr dominant dazu gefügt wurden.
Inhaltlich könnte das Bild jetzt schon bestehen, aber da ist ja noch die weitgehend leere Fläche links, von der sich der Künstler herausgefordert fühlt. Schon seit einigen Jahren arbeitet er mit kleinen Kunststofffiguren, die eigentlich für den Modellbau erzeugt werden. Und eben die sollen auch in diesem Bild für Leben und zusätzliche Emotionen sorgen. Er fragt sich, wofür seine Gebäudekreation eigentlich steht. Da ist Schaffenskraft und Untergang, auf den neues Schaffen folgt, ein typischer Ausschnitt aus einer Welt, die vom Menschen seit seinem Bestehen gestaltet wird.
Die Frage ist, gestaltet dieser Mensch wirklich, oder widerfährt ihm das mehr, weil er gar nicht so wichtig ist, wie er glaubt? Und was wäre wirklich wichtig? Es sind Fragen, die sich aus einer Paraperspektive, aus einem Blick von oben stellen. Es bietet sich daher an, die kleine weiße Figur, den Menschen, der vor dem Hintergrund der Welt winzig erscheint und zugleich in der Lage ist, seine eigene Bedeutung und die der Welt zu hinterfragen, über diesem Szenario zu positionieren, auf einem langen dünnen Podest, das die Zerbrechlichkeit dieses winzigen Individuums zu betonen scheint. Und apropos wichtig: Der Blick des anonymen Mannes richtet sich nicht einmal auf die Welt unter ihm. Der sucht die Frau neben ihm, nahe, aber nicht so einfach erreichbar, geschützt von einer Art Korb, zu dem man sich erst einmal Zutritt verschaffen müsste. Ganz abgesehen davon, ob man überhaupt willkommen wäre.
Mit diesen beiden Wesen, zwei fast nicht sichtbare Gestalten auf einer großen, nachdrücklich gestalteten Fläche, erhält das Bild gleichermaßen eine philosophische und eine melancholische Dimension, eine eigene Wirklichkeit, zu der sich die Zutaten verwahrheitet haben. Aus Strichen auf Papier, kleinen Stelzen auf Klebern und Kunststoffmasse aus einer Spritzgussmaschine wurden Laub, Gebäude, Menschen und Ideen, die der Künstler zu einem Bild zusammengefügt hat, das uns als Betrachtern wiederum einen Vielzahl von Überlegungen und Spekulationen eröffnet.
Bemerkenswert ist, dass Linien, Striche und Farben als solche von allen Betrachtern gleich wahrgenommen werden (sofern sie gleich gut sehen). Ihre Interpretation schafft allerdings keineswegs allgemein gültige, sondern höchst individuelle Wirklichkeiten, von denen jede einzelne auch „wahr“ ist.
Nun ist das ja nur meine Wahrnehmung, meine Wahrheit, die ich gerade geschildert habe. Michaels kreativer und reflektiver Prozess der Verwahrheitung könnte auch ein ganz anderer gewesen sein, und ihr könntet auf diesem Bild auch etwas ganz anderes sehen als ich.
Das ist ja das Schöne an der Kunst. Sie eröffnet uns beim Betrachten jede Freiheit der Interpretation.

In diesem Sinne hoffe ich, ein paar Anregungen für das Betrachten von Michaels Werken beigesteuert zu haben und wünsche viel Freude mit seinen Verwahrheitungen.
Zu den Bildern der Ausstellung